2006/10/04

Bahnhofsinsel

Ein Bahnhof ist für manche Menschen ein Ort der Zuflucht, Abschiedsplatz, Ankunftsort. In jedem Fall ist ein Bahnhof eine Insel.

Der Blick fällt auf die Bahnhofsuhr. Sie tickt verlässlich. Ganz im Gegensatz zu der Bahn, die schon da sein sollte. Eigentlich haben all die vielen Penner schon die richtige Wahl getroffen. Wenn man auf seinen zwanzig Minuten verspäteten Zug eine halbe Stunde wartet beginnt man sich im Bonner Hauptbahnhof wirklich wohl zu fühlen. Man gammelt auf dem Boden, vor sich all sein Hab und Gut und fühlt sich eigentlich ganz wohl. Man kommt hier nicht weg, denn der Zug könnte ja jeden Moment kommen und der Bahnhof wird zur Insel. Das rote Gebäude strahlt Härte aus, genau wie Geborgenheit. Ein Gebäude in dem man wohl fühlen kann, wie sich wohlfühlen anfühlen könnte.

Nach nicht zu zählenden Minuten fährt der Zug ein. Im leeren Abteil angekommen fühlt man sich, wie in einem Aquarium. Die Beleuchtung innen ist grell. Der Bahnhof wirkt plötzlich wie eine ferne unerreichbare Welt. Als der Zug sich in Bewegung setzt entfernt sich diese Welt noch viel mehr. Aus Lichtern werden Schlieren am dreckigen Fenster, aus Menschen werden Flecken. Als der Zug aus dem Bahnhof raus ist versinkt die Welt vor den Aquarium-Scheiben in Dunkelheit.

Die Aufmerksamkeit wird auf die Lektüre gelenkt. Diese belehrt: „Die Wahrscheinlichkeit, auf einer Insel glücklich zu sein, ist größer als auf dem Festland.“ Darum leben die Penner auf der Bahnhofsinsel. Aber mal ehrlich: wir leben alle auf unserer eigenen kleinen Insel, die auf dem Strom der Masse schwimmt. Man sieht es doch täglich: Deutschland geht es schlecht – Deutschland meckert – alle meckern mit – alle sagen sie würden nicht meckern. Alle bauen ihre eigene, kleine Insel, die sie zum Glück führen soll.

Die Zugfahrt entwickelt sich zur Fahrt auf die nächste Insel, die glücklich machen soll. Weg vom Stress, weg von Freunden, weg von Familie und Umfeld. Weg von allem was ablenkt. Hin zum Verstehen. Verstanden haben bedeutet glücklich zu sein. Dabei ist es egal was verstanden wird. Etwas verstehen befriedigt mehr, als alles andere auf der Welt. Eine schwere Aufgabe das erste Mal zu verstehen kann glücklicher machen, als alle Weihnachtsgeschenke aufeinander. Am glücklichsten macht es, sich selbst zu verstehen.

Der Blick schweift aus dem Fenster. Der Himmel ist schwarz und sternlos. Dunkler als der Himmel sind nur die Berge. Sie sind schwärzer als alles. Fast als hätte jemand ein Loch in den Himmel geschnitten. Die Lichter der Häuser am Fuß der Berge spiegeln sich auf dem Fluss, der fast genauso schwarz ist wie die Berge. Ein glückliches, glänzendes Schwarz. Ab und zu taucht eine beleuchtete Ruine in den Bergen auf. Kleine Schlösser der Vergangenheit über dem hektischen Leben, das bei diesem Anblick für einen kleinen Moment inne hält.

Plötzlich taucht ein riesiger Berg auf, der den Lauf des Flusses schmälert. Die Wasseroberfläche kräuselt sich hier deutlich, der Fluss fließt schneller, er rast. Man spürt förmlich die Kraft die das Wasser aufbringen muss um diesen Engpass seines langen Weges zu passieren. Die Oberfläche glitzert wie tausende Sterne. Das Wasser sieht, trotz der Schwere Weges, glücklich aus. Dann verschwindet der Fluss hinter Häusern.

Die Aufmerksamkeit versinkt wieder in die Gedanken an Glück. Andere zu verstehen macht glücklich. Man müsste es wie Norah Vincent machen. Sie hat 18 Monate als Mann gelebt. Anerkannt und Unerkannt. Sie versteht die Männer jetzt ein ganzes Stückchen mehr. Auch wenn sie es nicht nötig hat. Schließlich ist die Frau lesbisch. Aber vielleicht ist ihr dieses Wesen darum auch noch so viel ferner.

Fern liegt auch die Welt draußen. Einfahrt in den Flughafen Bahnhof Frankfurt. Ein Konstrukt aus Betonpfeilern, verkleidet mit betongrauem Plastik, die eine plastikvertäfelte Decke tragen. Der Boden: kalte graue Steine, die aussehen wir eine Eisfläche, die bricht sobald man sie betritt. Alles andere ist aus Metall. Geländer, Anzeigetafeln, Uhren, Bänke. Alles giftig glänzendes Metall. Einzig die Sitzflächen der Bänke sind aus dunklem Holz. Die Bahnhofsuhr funktioniert digital. Silberne Zahlen auf schwarzem Grund – nicht gerade Vertrauen erweckend.

Das kann unmöglich alles die gleiche Welt sein. Ein Bahnhof soll einen willkommen heißen, soll einen in die Arme nehmen. Ein Bahnhof soll zum Abschied glücklich winken. Dieser Bahnhof ist nicht glücklich. Die Betonpfeiler sind dick und stabil, doch im grellen Licht der Neon-Leuchten scheinen sie lustlos, als würden sie jeden Moment ihre Arbeit quittieren.

Der Zug setzt sich wieder in Bewegung. Die Lektüre wird weg gepackt, außerdem der ausgepackte Proviant. Die Nacht draußen wird heller. Es wird nicht Tag - die Stadt nähert sich. Aus dem dunklen Schwarz des Himmels, das vorher so klar die Welt einrahmte wird langsam ein dreckiges, künstliches Lila. Die Lichter der Stadt erhellen den Himmel auf eine diffuse Art und Weise. Der Zug überquert einen Fluss. Er wirkt genauso lust- und kraftlos wie die Betonpfeiler.

Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Fährt in den Bahnhof ein. Das behagliche Gefühl eines Wohlfühl-Bahnhofs kommt wieder auf. Das Glas des Daches ist mit den vielen Jahren milchig geworden. Getragen wird es von schwungvoll gestalteten Eisenträgern, die grün schimmern. An den Enden von jedem Träger sind kleine Ornamente aus Zink gestaltet. Das Bahnhofsgebäude wirkt stark.

Beim aussteigen fällt der Blick auf die verlässlich tickende Bahnhofsuhr. Sie heißt jeden Willkommen. Unter ihr hängt ein grinsender Kopf. Grinsen auf den Gesichtern, die ihn erblicken. Beim Gang durch das Bahnhofsgebäude kommen Penner über den Gang. Sie lächeln. Sie sind sich bewusst über ihre Insel und dass sie wahrscheinlich niemals davon runter kommen werden.

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